Mit ihrer umfassenden Recherche hat Sasha Waltz bereits im Jahr 2000 vorweggenommen, was Choreografen bis heute vorrangig beschäftigt: die Erforschung ihres Instruments in all seinen Facetten und nicht nur als funktionaler Tanzkörper, als der er bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts von Choreografen und Pädagogen ausschließlich gesehen wurde (und zuweilen noch gesehen wird). Doch abgesehen vom inhaltlichen Schwerpunkt ist dieses monumentale Gesamtkunstwerk ein ästhetischer Meilenstein der jüngeren Tanzgeschichte.
Die schwarze Wand gibt den Blick erst nur auf einige wenige Körperteile frei: hier ragt ein Bein heraus, dort ein Haarschopf, Hände, Finger. Dannn winden sich die nackten, weißen Körper hervor. Eingequetscht zwischen der Wand, einem Screen und anderen Körpern bilden sie ein bewegtes Gemälde. Das Geschehen verlagert sich in den Raum: Szene an Szene werden Körper ihre unterschiedlichen Seinszuständen erlebbar: der gemarterte Körper, der energetische Körper, der verleugnete Körper, der eigenwillige Körper, der bewegte Körper, der willige Körper, der widerstandslose Körper, der rebellische Körper, der kommerzielle Körper (in einer Szene in dem die Organe ausgepreist werden). Selten tritt der befreite Körper in Erscheinung, meist ist er gehemmt, sei es durch die Sprache, die seine Teile falsch benennt (der Tänzer sagt Mund und deutet auf die Stirn, sagt Knie und deutet auf den Ellenbogen) oder weil er brutal an der Haut gezogen und manipuliert wird. Oder er wird verkannt, etwa wenn zwei Tänzer zu einem neuen Körper "verkehrt" zusammengesetzt werden. Sasha Waltz schont ihre wunderbaren Tänzer nicht, jeder einzelne eine Persönlichkeit mit einem unverwechselbaren Körper. Fasziniert folgen wir 90 MInuten lang ihren Handlungen und Wandlungen, die sich im Laufe des Abends zum Sound von Hans Peter Kuhn immer mehr verdichten und in einer Katharsis kulminieren: wenn die raumhohe Wand mit lautem Knall zu Boden fällt.
Dann wird der Raum frei für den erotischen Körper in einem pas de quattre und für ergreifend poetische Bilder, etwa, wenn eine Tänzerin, ihre meterlangen Zöpfe an Stäbe gebunden, fast träumerisch ihre Kreise zieht.
15 Jahre nach seiner Uraufführung ist dieses Werk so frisch als wäre es gerade erst entstanden. Seine Komplexität erlaubt es den Tänzern wohl immer neue Zuschreibungen für ihre Handlungen zu finden und sie jedes Mal mit neuem Leben zu erfüllen. Als Zuschauer wechseln wir empathisch zwischen körperlichem Unbehagen und Bewunderung für die karge und gleichzeitig überwältigende Schönheit. A Masterpiece!
Sasha Waltz & Guests: „Körper“ im Tanzquartier Wien am 16. Oktober 2015