Große Kiste an der Volksoper, wenn Boris Eifman das tragische Leben der Ausnahme-Tänzerin Olga Spessiwzewa auf die Bühne bringt. In der prächtigen Original-Ausstattung von Wiacheslav Okunev und zu einer musikalischen Collage aus Werken von Tschaikowsky, Schnittke und Bizet (mit ein bisschen Adolphe Adam) entwickelt das Wiener Staatsballett die melodramatische Geschichte in Cinemascope.
Der russische Choreograf Boris Eifman führt das große Handlungsballett in der Formensprache der Neoklassik in Stile eines Kenneth McMillan weiter und erinnert zuweilen auch an das revue-artige choreografische Theater eines Johann Kresnik (etwa in der Charleston-Szene mit Einspielungen vom Band). Mit seinen aufwändigen Inszenierungen erfüllt er alle Vorgaben an das große Ballett und das hat ihm nach "Anna Karenina" nun mit „Giselle Rouge“ (aus dem Jahr 1997) seine zweite Einladung nach Wien gebracht.
Wenn Eifman den emotionalen Verstrickungen und Konflikten der Ballerina nachspürt, dann ist das an Dramatik kaum zu überbieten.Freilich, Spessiwzewas Biografie ist um einiges komplexer als in Eifmans Version, denn Geheimdienstverschwörungen und Gerüchte über ihre Verwicklung im Mord einer Kollegin, derer sie ebenfalls bezichtigt wurde, lassen sich durch Tanz nicht darstellen. Niemand kann wissen, was die Tänzerin tatsächlich in den Wahnsinn getrieben hat, und sie zwanzig Jahre in eine Anstalt verwiesen hat. Bei Eifman ist die Beziehung zu drei Männern (von denen höchstens jene zum Kommissar traumatisch ist) und die sowjetische Revolution der Grund, und das ist nun doch eine naive und unglaubwürdige Lösung. Auch choreografisch ist Eifman nicht raffiniert, sondern eindeutig. Wenn die klassische Linie gebrochen wird, der Fuß geflext ist, dann ist auch die Psyche in Unordnung. In gymnastisch-vertrackten Pas de deux (ein Markenzeichen aller Eifman-Choreografien) mit viel Bodenarbeit und Lifts tragen die ProtagonistInnen ihre Konflikte aus.
Olga Esina ist prädestiniert für die Rolle der russischen Ballerina, ist doch auch sie eine ideale klassische Tänzerin. Dennoch vermisst man bei ihre jene Leidenschaft, die die Spessiwzewa ihren Platz als einzigartige Persönlichkeit in der Ballettgeschichte sicherte. In den Pas de deux mit dem Kommissar bleibt sie in letzter Konsequenz distanziert und kühl, behält bei seinen Manipulationen immer noch einen Rest an Zurückhaltung. Eine der erfolgreichsten Rollen der Spessiwzewa war Giselle, (für deren Einstudierung sie tatsächlich eine psychiatrische Anstalt besucht hat). In der Schlussszene von "Giselle Rouge" deckt sich die Rolle der Giselle mit jener der Ballerina. Doch wenn Olga Esina dem Wahnsinn verfällt, scheint sie eher entrückt als getrieben, bevor sie in einem Spiegelkabinett der Irrungen entschwindet.
Kirill Kourlaev hat in der Rolle des systemgetreuen Kommissars (bei dem es sich in realiter um Boris Kapaun handelt), der sich in die Ballerina verliebt, wieder eine seiner Paraderollen gefunden. Bei Eifman ist er die Schlüsselfigur für Spessiwzewas tragisches Schicksal. Unerbittlich kämpft er mit der Frau, unterwirft den ihr vertrauten Ballettlehrer, lässt ihn von seinen Geheimdienstmännern fertig machen. Der Kommissar verkörpert psychische und physische Gewalt gleichermaßen. Es überrascht, wenn er nach dem Abschied von der Ballerina schmerzerfüllt zusammenbricht, denn nie hätte man diesem fanatisierten Revolutionär eine derartige Gefühlsschwäche zugetraut.
Sehr überzeugend interpretiert Eno Peci den launenhaften Ballettlehrer, der seine Schülerinnen mit dem Rohrstock trietzt. Das Mitgefühl des Publikums ist ihm jedoch bei den Misshandlungen durch die sowjetische Terrormiliz sicher, die ihn – geschunden und an der Ballettstange gefesselt – immer wieder vorführt.
Roman Lazik etabliert die Rolle des schwulen Tanzpartners (der als Serge Lifar identifizierbar ist) in seinem ersten Solo so glaubwürdig, dass es dafür das Duo mit seinem Freund (Jacopo Tissi) nicht mehr gebraucht hätte.
Die Schwäche der Eifmanschen Dramaturgie liegt in seiner Tendenz zur Überdeutlichkeit. Er will das Publikum manipulieren, scheint es aber gleichzeitig zu unterschätzen. Und so ist vieles in diesem Ballett überdosiert: die starken Bilder, die dramatischen Gesten, die hochkomplexen Verschränkungen in den Pas de deux, die den Bewegungsfluss stoppen, weil sich die Tänzerinnen von einer Position zur anderen hanteln müssen. Durch dieses Zuviel wird auch die Erzählung zunehmend banal.
Insgesamt überzeugt der Abend dennoch durch seinen Unterhaltungswert und durch die Umsetzung, nicht nur der Hauptrollen, sondern auch des Ensembles, das den Kontext der Handlung als klassisches Corps, als erdig aufstampfender revolutionärer Mob, oder als extravagante Pariser Gesellschaft vorgibt. Auch das Volksopernorchester unter der Leitung von Andreas Schüller verleiht dem Abend zusätzlichen Schwung und akzentuiert die Dramatik.
Wiener Staatsballett: „Giselle Rouge“ Premiere am 12. April 2015 an der Volksoepr Wien. Weitere Aufführungen in dieser Besetzung am 27. April und 11. Mai, mit alternativer Besetzung (Ketevan Papava und Vladimir Shishov in den Hauptrollen) am 15. April und 3. Mai.