Nicht alles, was ein Meister unterschreibt ist auch ein Meisterwerk. Auch Genies (dürfen) fehlen. So ist das Programm „Meistersignaturen“ an der Wiener Staatsoper mit Werken von Jiri Bubenicek, John Neumeier, George Balanchine und Rudi von Dantzig eine durchwachsene Angelegenheit. Die TänzerInnen des Wiener Staatsballetts sind wie immer technisch auf der Höhe, auch wenn es einigen von ihnen (noch) an Ausdruckskraft fehlt.
Es ist der Abend des Roman Lazik. Bereits beim Opener „Le souffle de l’esprit“ strahlt er Präsenz und Zuversicht aus. Am Ende wird sein Pas de deux mit Nina Poláková der Höhepunkt der „Vier letzten Lieder“ sein – doch davon später. „Le souffle de l’ésprit“ aus dem Jahr 2007 ist ein Meisterwerk, das allerdings seine Wirkung nur entfalten kann, wenn sich der Titel im Ensemble manifestiert, wenn getanzt wird, als wären alle von einem gemeinsamen Atem bewegt. Das gelingt bei dieser zweiten Vorstellung in dieser Saison hervorragend. Das Stückt wogt und schwingt im Einklang. Neben Roman Lazik brillieren Eno Peci, Dumitru Taran, Emilia Baranowicz und Reina Sawai in den Solorollen sowie das Corps aus acht TänzerInnen.
In „Vaslaw“ konfrontiert Neumeier die Gestalt des Vaslaw Nijinsky mit möglichen Charakteren für ein Ballett, das er zu Musik von Bach zu choreografieren geplant hatte – ein Projekt, das nie realisiert wurde. Nijinsky, in einen Zustand von Entfremdung und Zerrissenheit, der seine Geisteskrankheit erahnen lässt (sehr berührend interpretiert von Masayu Kimoto), sieht seine Choreografie zu neun Bach-Kompositionen an seinem geistigen Auge vorbeiziehen. Erst als sein leichtfüßiges Alter Ego (wunderbar: Greig Matthews) ihn aus seiner Lethargie reißt, mischt er sich in einem Pas de trois selbst als Tänzer ein. Während der Anfang noch fesselt und überzeugt, so geht der Impakt im Verlauf des Stücks zunehmend verloren und die Tänze (obwohl einwandfrei getanzt) plätschern wie Divertissements dahin - diese waren ja ursprünglich auch Ausgangspunkt der Choreografie. Neumeier hat anlässlich einer Gala 1979 die ersten beiden Pas de deux choreografiert und wollte sie aufgrund ihrer einfachen Struktur „Harmlose Tänze“ nennen. Erst als Patrick Dupond die Rolle des Vaslaw übernahm, wurde daraus ein Miniportrait von Nijinsky – doch die choreografische Zweiteilung zwischen dem Protagonisten und den anderen Figuren bleibt bestehen.
Das „Allegro Brillante“ gehört wohl nicht zum Kanon der besten Werke im reichhaltigen Oeuvre von George Balanchine. Die drei distinkten, musikalischen Teile des einsätzigen Klavierkonzerts (übrigens das letzte Werk, das der Komponist beendete und das erst posthum veröffentlicht wurde) finden in der Choreografie aus dem Jahr 1956 keine Entsprechung. Auch hier würde der Titel „harmlose Tänze“ passen, wenn die vier Corps-Paare und das Solopaar (Kiyoka Hashimoto und Robert Gabdullin), in ihren rosa und pastellgrünen Kostümen luftig leicht und beschwingt, und gleichzeitig unverbindlich über die Bühne fegen.
Auf den Grund der Gefühle führt hingegen das Meisterwerk von Rudi van Dantzig aus dem Jahr 1877: „Vier letzte Lieder“. Der holländische Choreograf ist bei den vier Strauß-Liedern nicht den Texten, sondern den musikalischen Strukturen auf den Grund gegangen. Die Todessehnsucht, die in diesen letzten Arbeiten von Richard Strauß mitklingt, hat van Dantzig in ein berührendes Portrait einer Gemeinschaft transponiert, in der der Tod (Eno Peci) nicht als Feind, sondern als verbindende Figur in Erscheinung tritt. Zum ersten Lied „Frühling“ sind Nina Tonoli und Mihail Sosnovschi das charmant-jugendliche Paar. Masayu Kimoto und Ioanna Avraam verleihen dem zweiten Lied „September“ Ausdruckstärke. Besonders berühren jedoch Nina Poláková und Roman Lazik im dritten Lied „Beim Schlafengehen“. Die beiden sind ein wunderbar eingespieltes Paar und überraschen und überzeugen immer wieder im modernen Repertoire (wie etwa auch in „Before Nightfall“ von Niels Christe). Für das vierte Lied „Im Abendrot“ würde man sich reifere InterpertInnen wünschen. Prisca Zeisel und Alexis Forabosco haben sicher das technische Potenzial für diesen Pas de deux. Den emotionalen Tiefgang, den dieser Part verlangt, können sie aber vielleicht aufgrund ihrer Jugend noch gar nicht bringen.
Ebenso wie die tänzerische Besetzung an diesem Abend keine Rollendebuts aufwies, lag auch die musikalische Leitung in den bewährten Händen von Dirigent Vello Pähn, am Klavier spielten die KorrepetitorInnen Igor Zapravdin (Bach) und Shino Takizawa (Tschaikowski). Die Strauß-Lieder klangen bei Olga Bezmertna manchmal in der Höhe etwas schrill und in den tiefen Tönen zu leise.
Wiener Staatsballett: „Meistersignaturen“ am 3. Oktober 2014 an der Wiener Staatsoper. Weitere Vorstellungen mit wechselnden Besetzungen am 20. und 21. Oktober.