Mord, Totschlag, Exzentrik und barocker Pathos prägen die Welturaufführung von Wim Vandekeybus neuer Kreation „Booty Looting“ am 23. Juni im Arsenal der Tanzbiennale Venedig. Das Stück löst ein, was der Titel verspricht: der Choreograf/Regisseur unternimmt einen Raubzug durch antike und moderne Mythen, philosophische Diskurse und historische Ereignisse.
Die deutsche Schauspielerin Birgit Walter schleift nacheinander drei in graue Decken gehüllte, liegende Gestalten auf die Bühnenmitte. Erschüttert kniet sie nieder und beginnt herzzerreißend zu schluchzen. So abrupt wie sie zu weinen begann, bricht sie ab, unzufrieden den Kopf schüttelnd. Mehr zu sich selbst als zum Publikum bemängelt sie ihr Wehklagen als falsche Gefühlsduselei und geht scheinbar privat zum Bühnenrand. Den sie umschwirrenden Fotografen wehrt sie entschieden ab: „No photos!“ Vergeblich. In Verlauf des Abends sollen noch unzählige Bilder geschossen werden.
Längst verabschiedete sich Wim Vandekeybus von den schockierenden Choreografien seiner 1986 gegründeten Kompanie Ultima Vez, in denen er sich ausschließlich mit einem aggressiven Bewegungsvokabular aus riskanten Sprüngen und krachenden Stürzen mitteilte. Zunehmend band er andere Kunstgattungen in seine Arbeiten ein. Diesmal ist neben Birgit Walter, der britische Schauspieler Jerry Killick, eine Tänzerin, drei Tänzer, ein Live-Musiker und zum ersten Mal ein Live-Fotograf mit von der Partie.
Wenn der Fotograf Danny Willems die Momente von Birgit Walters inszenierter Unzufriedenheit über ihr Schluchzen fotografiert und später auf die Leinwand der wie ein Fotostudio ausgestatteten Bühne wirft, überlagert er die geheuchelte Realität der Schauspielerin mit der vorgetäuschten Wahrhaftigkeit seiner Abbildung. Die Fragen „Was ist echt und was gefälscht?“ und „Ab wann ist etwas Kunst?“ beschäftigen uns fortan für 120 Minuten im Format eines rasanten Reality-Fotoshootings. Dabei stellen Jerry Killick als geschwätziger Moderator, das vierköpfige Tanzensemble und Birgit Walter Momente aus ihrer Biografie zum Abfotografieren nach. Birgit Walters Alkoholsucht, die Wiederverheiratung ihres Ex mit einer Jüngeren werden ebenso gnadenlos zu Pixeln verarbeitet wie eine Aussprache mit den früh verstorbenen Söhnen oder ihr exzentrischer Auftritt als Medea. Immer wieder passieren Handlungen parallel oder geraten außer Kontrolle. So wird etwa aus einem harmlosen Urlaubsschnappschuss ein rasantes Rodeo-Reiten auf Pappkarton-Tieren, in dem Dymitry Szypura, Luke Jessop und Kip Johnson akrobatisch mit Leitern umkippen oder auf Kabelrollen wie in einem Hamsterrad laufen. Etliche Szenen enden in Mord und Totschlag, meist unterbrochen von einem Ensemblemitglied, das einwirft, es dauere bereits zu lang und nun seinerseits versucht, etwas aus dem eigenen Leben anzubringen. Am Ende zerstört Elena Fokina entnervt mit Tennisbällen die Leinwand, als könne nur durch das Versiegen der projizierten Bilderflut Ruhe einkehren. Wenn das Licht ausgeht, improvisiert Elko Blijweert noch minutenlang mit seiner E-Gitarre im Dunklen. Eine Wohltat für das strapazierte Auge.
„Booty Looting“ bedeutet sich gestohlene Beute unter den Nagel zu reißen - Gold, Schmuck, Frauen, was auch immer. Das Stück löst ein, was sein Titel verspricht, denn Vandekeybus erweist sich als meisterhafter „Booty Looter“. Ungeniert wie ein Kriegsplünderer holzt er antike und moderne Mythen ab, nimmt philosophische Diskurse auf die Schippe, zitiert historische Ereignisse und bedient sich technischer Errungenschaften, um daraus ein fettes Gesamtkunstwerk zu recyklen. Zu sehen, wie unbedeutend ihm Tanz im engeren Sinn geworden ist, stimmt nachdenklich. In dieser Hinsicht waren seine früheren Arbeiten radikaler.
„Booty Looting“, UA am am 23. Juni im Arsenale bei der 8. Internationalen Tanzbiennale in Venedig
Zu sehen bei ImPulsTanz Wien im Museumsquartier am 06. August 2012
Dieser Artikel ist ein Originaltext der Kleinen Zeitung vom 25. Juni 2012