Guilherme Botelho zeigte mit seiner Compagnie Alias eine Metapher für das Menschsein. „Sideways Rain“ hält 15 TänzerInnen nahezu eine Stunde in fortwährender Bewegung. Die intensive Ausdruckskraft der Choreografie und der unermüdlichen TänzerInnen riss das Publikum im Tanzquartier zu Beifallsstürmen hin.
Spinnentiere, Käfer auf Zehenspitzen kriechen über die Bühne, kommen aus dem Dunkel ins noch fahle Licht, verschwinden wieder im Dunkel. Eine endlose Reihe, ungeordnet oder in Formation, quert unaufhörlich den Raum. Es sind nur 14, aber es könnten auch 140 sein oder 1.400, die Kette reißt nie ab, nicht für eine Zehntelsekunde ist die Bühne leer. Nur für eine Zehntelsekunde ist eine Tänzerin, ein Tänzer bewegungslos. Mit seinem jüngsten Stück "Sideways Rain" hat Botelho mit Alias das Perpetuum mobile im Tanz erfunden.
Das Licht wird heller, die Kriechtiere, die auch robben, rollen, rutschen, im Kreisschritt gehen und doch vorwärts kommen, diese Wesen, die einander nicht ansehen und nicht kennen, richten sich langsam auf, fallen wieder um und richten sich wieder auf. Das Licht wird heller. Die Bewegung setzt sich fort, in Zeitlupe und im Zeitraffer gehen, laufen, fliegen jetzt Menschen vom Licht ins Dunkel, um aus dem Dunkel wieder ins Licht zu kommen. Wie um sich auszuruhen sitzen immer wieder Einzelne, manchmal auch drei, auf dem Boden, die anderen Teile der bewegten Masse, weichen ihnen aus, setzen ihren Weg fort, laufend, rutschend, kreiselnd. Plötzlich steht die Welt für Sekunden still: Eine Begegnung zweier Einzelwesen. Ein Mann hält eine Frau am Arm fest, sie sehen einander an. Die Bewegungen der anderen sind erstarrt. Nur für einen Augenblick. Dann dreht sich die Welt wieder, das unendliche Band wird weitergespult.
Die minimalistische elektronische Musik von Murcof (Pseudonym für den mexikanischen Komponisten Fernando Corona), immer wieder anschwellend und abebbend, und das sich dem Rhythmus fügende Licht umhüllen die TänzerInnen mit der unwirklichen Aura eines Cyberraums, der auch das Publikum mit einbezieht. In diesem Raum entwickelt die schnörkellose Tanzsprache Botelhos einen Sog, dem ich mich nicht entziehen kann. Dass dieser unaufhörliche Bewegungsstrom nicht langweilig wird sondern in Spannung hält, zeigt Botelhos und seiner Compagnie Ausdruckskraft.
Als Metapher für die Unausweichlichkeit des Schicksals, für die Entwicklung der Menschheit und die Dinge des Lebens kann man dieses großartige Stück deuten, oder einfach als eine Erzählung über den Tanz, über die Bewegung der Körper im Raum zur Musik. Am Ende spinnen die TänzerInnen selbst ein Netzt aus bunten Fäden und entledigen sich allmählich der Kleider. Splitternackt laufen sie unbehelligt entlang der dicht gespannten Fäden, vom Dunkel ins Licht und wieder ins Dunkel. Doch Zwei sind wieder hingefallen, kriechen auf dem Boden als gäbe es weder Anfang noch Ende.
Guilherme Botelho, in Brasilien geboren, tanzte in Sao Paolo bevor er 1982 vom Ballett des Grand Théâtre Genève engagiert wurde. 1987 begann er eigene Choreografien zu realisieren, 1993 gründete er Alias. 2008 ehrte ihn seine zweite Heimat für sein Gesamtwerk mit dem Schweizer Tanz- und Choreografiepreis.
„Sideways Rain“, 29. April 2011, Tanzquartier.