„Die Winterreise“ nennt Jochen Ulrich sein neues Ballett und tatsächlich hat er als musikalisches Material gemeinsam mit dem Komponisten Heinz Winbeck auch Lieder aus Franz Schuberts Liederzyklus „Winterreise“ gewählt. Was bei Schubert milde Trauer und süße Melancholie ist, wird durch Ulrich-Winbeck zu einem Parforceritt in die schaurigen Abgründe menschlicher Emotionen.
Wenn Musik und Tanz (Bühnengeschehen) aus einem Guss fließen, kein Element dem anderen den Vorrang streitig macht, dann entsteht ein besonderer Abend, intensiv und spannend, aufwühlend und beängstigend, aber auch beglückend und, um ehrlich zu sein, auch verwirrend.
Franz Schubert regiert den Abend, doch er ist gar nicht anwesend. Heinz Winbeck hat sich in Schuberts Musik eingelebt, ihre Motive und Atmosphäre auf eigene Weise neu arrangiert und instrumentiert und eine dreiteilige Winterreise für großes Orchester, Soloklavier (Maki Namekawa) und Bariton (Martin Achrainer) komponiert, die die Gefühle der Zuhörerinnen durch die Mangel dreht, bis sie gewendet, gedreht und ausgewrungen brach liegen. 1996 wurde Winbecks Komposition „Winterreise – Stationen für 19 Solostreicher“ uraufgeführt. 2008 hat Winbeck das Werk auf Anregung von Dennis Russel Davis, dem Dirigenten des Brucknerorchesters bei der Ballett-Premiere, erweitert und hat sieben Lieder aus dem Schubert-Zyklus „Winterreise“ instrumentiert. Für die Choreografie hat Winbeck nun fünf weniger bekannte Schubert-Lieder ausgewählt und für Klarinetten, Schlagzeug, Streichorchester und Klavier arrangiert. Erinnerungen an Schubert, Assoziationen mit Schubert, Motive von Schubert – aber nicht wirklich Schubert. Musik zum Tanzen aber sehr wohl, Tanzmusik auch. Franz Schubert hat ja im Dreivierteltakt komponiert.
Eine Herausforderung für Jochen Ulrich, der in seinen Balletten den Mitwirkenden oft eine Geschichte gibt, aber keine richtige Geschichte erzählt. Diesmal also eine Hochzeitsgesellschaft: Die Braut, ihre Eltern und Verwandten; der Bräutigam, seine Eltern und Verwandten, en androgyner Gastgeber. Die Gäste machen sich mit Hilfe der Musik auf eine Reise in ihre Innenwelt, die nicht nur eisig kalt sondern auch aggressiv, gewalttätig und qualvoll ist. Die Braut will den Bräutigam nicht wirklich heiraten, der Vater schleift sie zum Traualtar. Dem Bräutigam muss der Mund zugehalten werden, damit er nicht schreit, wenn die Braut auf ihn geworfen wird. Pure Sexualität, grausam und wild, beherrscht die Szene. Vergewaltigung und Inzest liegen in der Luft. Selbst dann, wenn die Hochzeitsgesellschaft vorgibt zu Tanzen, herrscht nicht heitere Entspannung sondern gespanntes Warten auf den drohenden Ausbruch, der auf der Festtafel stampfenden traurigen Festgäste.
Jochen Ulrichs Tanzsprache ist direkt und akrobatisch, das 15 köpfige Ensemble leistet Schwerstarbeit mit weiten und hohen Sprüngen, schwierigen Hebungen und Drehungen. Im ersten Teil ist die Hochzeitsgesellschaft in unaufhörlicher Bewegung, nicht nur die Braut und ihr Vater ringen in der Arena. Die Mitwirkenden tragen hochhackige, schwere Schuhe, müssen laufen und drehen und niemanden wundert, dass Fabrice Jucquois (Vater der Braut) sich bei der Probe das Nasenbein gebrochen hat, so heftig und wild, sind die akrobatischen Kunststücke, die Ulrich verlangt. Wie gut sein Ensemble zusammengewachsen ist und wie sehr es dem Choreografen vertraut, zeigt der Tänzer mit schwarzem Nasengips auf der Bühne. Für diese Rolle (wie für keine) gibt es keinen Ersatz, trotz der Verletzung, tanzte Jucquois die Premiere mit vollem Einsatz.
Auch der Sänger ist ins Geschehen eingebunden, als Ruhepol darf er am rechten Rand an seinem Tischchen sitzen, in sich versunken Noten auf die Blätter schreiben. Also doch auch Schubert. Unter ihm am Bühnenrand sitzt manchmal ein zärtliches Liebespaar. Ein Hauch von lieblichem Biedermeier in der Eiszeit.
Ausstatter Gottfried Pilz hat eine lange, sich ständige verändernde Festtafel geschaffen, die auch als Steg für die Tanzenden dient, als Brücke, zu überspringende Hürde und Grenzzaun genutzt wird. Über der hellen drehbaren Scheibe des Tanzbodens schwebt eine ebensolche dunklere. Der Himmel, sternenlos. Im Lauf des grausamen Festes wird er zum Spiegel, zeigt dann den öden Saal, während die Hochzeitsgesellschaft am Rand agiert.
Keine Winterreise ohne Schneefall. Die Flocken fallen dicht, kühlen die Emotionen, dämpfen die Leidenschaften. Der Sänger sitzt als blinder Leiermann hinterm Dorf, die Gäste des missglückten Festes sind erschöpft, die Welt ist vereist. Die Braut trägt jetzt Schwarz, doch sie reckt weiterhin die nackten Beine und lässt sich von den Männern begaffen. Die Melancholie in Schuberts „Winterreise“-Liedern hat auch Winbeck gepackt, keine wilden Trommler mehr, nur noch sanfte Streicher. Die Tänzer und Tänzerinnen dürfen tanzen, elegant, leise und schmiegsam; Pas de deux, Pas de trois, Pas de cinque, unhörbar fällt der Schnee, die Hochzeit hat sich zum Leichenschmaus an der reich dekorierten Tafel gewandelt, die Gäste selbst sind die Toten, starr liegen sie im kalten Weiß. Die Pianistin Maki Namekawa schwebt als Florence Nightingale auf die Bühnenscheibe, tröstet, heilt und erweckt wieder zum Leben. Der Schnee hüllt alles ein, die Gesellschaft arrangiert sich zum Tableau, Brautfamilie links; Bräutigamfamilie rechts, in der Mitte die Braut, wieder ganz in Weiß. Das Arrangement hält nicht lange, ein Wechselspiel der Paare beginnt und endet endlich doch in einem Fest. Einem gespenstischen allerdings, die längst tote Hochzeitsgesellschaft tanzt Walzer. Das letzte eindrucksvolle Bild. Wie Schubert.
Ulrich hat mit all seinen bekannten Elementen und Vokabeln gearbeitet, doch in Linz noch kein Ballett gezeigt, in dem der Tanz so sehr mit der Musik im Einklang war, in dem das Ensemble so homogen und gut trainiert wirkte und das, ohne eine plumpe Handlung zu erzählen, so sehr gepackt und beeindruckt hat. Musik und Bilder wie Schubert – das Publikum dankte mit frenetischem Applaus und Jubelrufen. Wenn da jemand Linz auf Provinz reimt, zeigt er nur seine Ahnungslosigkeit.
„Die Winterreise“, Landestheater Linz, Premiere am 26. Februar 2011
Nächste Vorstellungen: 10., 29. März 2011.