Um Sehnsucht geht es ihr, und um die Liebe. Doch romantisch ist ihre Welt mitnichten. Statt dessen schickt Sharon Eyal ihre TänzerInnen in Konflikte, Paradoxien und Dichotomien. Ihr bereits 2017 uraufgeführtes Stück „Soul Chain“ kommt mit ungeheurer physischer und emotionaler Gewalt aus der Mitte des Seins, zielt in eben diese und kommt dort auch an. Das Festspielhaus war aus dem Häuschen!
Der Titel „Soul Chain“ weist in seiner Zweideutigkeit, „Seelen-Kette“ und „Seele in Ketten“, auf das Konzept dieser Arbeit, die „ein Stück über die Sehnsucht“ ist. So Sharon Eyal in einem Interview. In diesem „Techno-Ballett“, die dröhnenden Beats ihres langjährigen Wegbegleiters Ori Lichtik treiben vom ersten Augenblick an, malt die gebürtige Israelin nicht per opulent ausgestatteter Bühnen-Romantik süßlich-verklärte Bilder aus Schmachten und Verzweiflung, sondern sie taucht tief in unbewusste seelische Strukturen. Und sie findet in diesem Welterfolg Ur- und Abgründe unserer Sehnsucht nach Liebe.
Die 17 TänzerInnen von tanzmainz, in den hautengen und -farbenen Kostümen von Rebecca Hytting erscheinen sie wie nackt, völlig ungeschützt, verbinden verfremdetes klassisches mit zeitgenössischem Bewegungsmaterial. Die auf höchstem Niveau permanent gehaltene Körperspannung ist die physische Repräsentation seelischer Konflikte und Widersprüche und des Wunsches, gut zu sein, entgegen allen eigenen emotionalen Erfordernissen den Geboten der familiär, sozial, gesellschaftlich und religiös induzierten intrapsychischen Instanzen zu entsprechen. Sie tanzen den Widerstand gegen diese wie den gegen die Macht der dunklen Aspekte, der abgelehnten, dennoch lebendigen Persönlichkeitsanteile in uns, die uns Selbst-Liebe, als Fundament für Fremd-Liebe, nicht erlauben, den Widerstand gegen die finale Einsamkeit, gegen das Geworfensein in die Welt, gegen die Not-Wendigkeit, sich anzuschauen. Sie tanzen den Widerstand gegen sich selbst.
Sie marschieren. Gruppenzwang, Anpassungsdruck, Gleichschaltung. Sie ergeben sich sozialen und gesellschaftlichen Normierungen. Und trotzdem bleibt jede(r) ein Individuum, das im Unisono am Deutlichsten sichtbar wird. Das fast durchgängig gehaltene Tanzen auf den Ballen ist ein Balance-Akt, die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen all den inneren und äußeren Bedrängnissen. Und die Scheu davor, den Boden ganz zu berühren, aus Angst davor, sich selbst zu spüren und ganz zu erleben. Manchmal, selten, in der zusammengedrängten Gruppe, sinken sie erleichtert auf die Fußsohlen. In der Sicherheit, die die Masse vermittelt, narkotisiert durch die Gemeinschaft, die als legale Droge Wunder wirkt gegen das quälende Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit. Mit ihren über weite Strecken durchgedrückten Rücken lassen sie ihr „Ich hab's nicht im Kreuz“ spüren.
Immer wieder, in Ensemble- wie solistischen Parts, erleben wir Nonkonformismus. Auflehnung gegen und Ausbrüche aus sozialen und gesellschaftlichen Konditionierungen und Normierungen. Der mit so viel Kraftaufwand, und meist erfolgreich, unterdrückte Widerstand bricht durch die dicke Decke aus fremdinduzierten Schichten über ihrem Selbst. Fäuste recken sich gen Himmel, Individuen zeigen sich in der Masse, alle Männer erst, dann alle Frauen lösen sich jeweils gemeinsam aus einer fest gefügten, sie gefangen haltenden Gitter-(Rollen-)Struktur. Das umwerfend expressive Solo einer Frau vor der dicht gedrängten Gruppe wird zu einer Kern-Sequenz des Stückes.
Die Kompanie von tanzmainz vollbringt, in jeder Zehntelsekunde konzentriert und fokussiert, körperliche und emotionale Höchstleistungen. Das Zählen ist die mentale Basis. Die Stringenz der Choreografie erzeugt mit stetig steigender Energie einen ekstatischen, tranceartigen Flow, in den sich die TänzerInnen tanzen. Im Flow sein, ganz bei sich, weil man sein Ego nicht mehr spürt. Mit fast beispielloser Präzision – Lucinda Childs fordert Ähnliches in ihren Arbeiten – führt Sharon Eyal die Kompanie über die Ordnung in die Freiheit. Weil sie beides als Einheit begreift und es hier tänzerisch erleben lässt. Und dieses ist nicht das einzige Paradoxon in „Soul Chain“.
Den Begriff der Liebe hinterfragt Sharon Eyal als einen missverstandenen. Missverstanden in dem Anspruch an sie, die Qualen unerfüllter Selbstliebe zu kompensieren, in der Sehnsucht nach dem Anderen als symbiotische Ergänzung für unsere gefühlte Unvollständigkeit zu einem Ganzen. Die Sehnsucht danach, sich ganz und heil zu fühlen spricht ebenso von der Ablehnung der Verantwortung für sich selbst, für ausnahmslos alle Gefühle, für alle Aspekte seiner selbst.
Aus Selbstbetrug gewachsene Selbstbilder, die Männer mit vorgewölbter Brust forsch veröffentlichen, die, nachdem von Männern hoch in die Luft geworfen, zu einem Trophäen- oder Abfall-Haufen aufgeschichteten Frauen, die erhobene weiche weibliche Hand neben der empor gereckten Männerfaust, die zwei aus der homogenen Gruppe ausbrechenden Frauen, mit vielen kleinen Gesten und der größeren am Ende weist Sharon Eyal auf den Urgrund allen Übels: den Mann als solchen. Im Schlussbild, mit einer aus der eng gestellten Gruppe in die Luft gestreckten Faust, scheint ein Mann den Verteidiger des patriarchalen Werte-Kanons gegen die vorn allein tanzende Frau zu geben. Immer heftiger versucht sie die Dämonen aus ihrem Kopf zu schütteln. Plötzlich ist alles aus.
Die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, mit der das Ensemble agiert, stehen einer oft so gewollten Attitüde gegenüber. Das ist es, was neben der tänzerischen Meisterleistung des Ensembles von tanzmainz packt, was gefangen nimmt. „Soul Chain“ beschreibt nicht nur eine Gesellschaft, deren Werte ihre Heilung nicht nur nicht anstreben, sondern eine fortschreitende individuelle Desintegration befördern. Funktionierende, nicht gesunde Menschen sind das Ziel. Die Arbeit ist auch ein feministisch-humanistisches, anti-patriarchales Manifest. Und schlichtweg ein Meisterwerk!
Der lang anhaltende Jubel des komplett erhobenen Publikums schien diese großartige, Erfolg gewohnte Kompanie zu überraschen.
Sharon Eyal und tanzmainz mit „Soul Chain“ am 15.10.2022 im Festspielhaus St. Pölten.